S. Geissbühler u.a.: Der einarmige Auswanderer

Cover
Titel
Der einarmige Auswanderer. Eine Spurensuche vom Emmental nach Argentinien


Autor(en)
Simon, Geissbühler; Ryf, Daniel
Erschienen
Zürich 2016: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
von
Magda Kaspar

Mit dem Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Auswanderung nach Übersee, vorwiegend nach Nord­ und Südamerika, neue Dimensionen an. Zwischen 1857 und 1939 emigrierten rund 40000 Schweizerinnen und Schweizer nach Argentinien, das zweitgrösste Auswanderungsziel nach den USA. Mehrere Kolonien wie Esperanza, Baradero, San Carlos oder San Jerónimo Norte wurden gegründet, die mitunter der Bevölkerung eines ganzen Schweizer Dorfs ein neues Zuhause boten.

Dies erstaunt nicht vor dem Hintergrund, dass Argentinien zu dieser Zeit wohlhabender war als viele europäische Länder. Zwischen 1870 und 1914 lag das argentinische Pro­Kopf­Einkommen höher als in Italien und Spanien. Die argentinischen Behörden erliessen zahlreiche Gesetze zur Förderung der Einwanderung, von der sie sich eine Modernisierung der argentinischen Wirtschaft und Gesellschaft erhofften. Einer der Auswanderer, die von diesen Bedingungen profitieren konnten, war Ernst Geissbühler.

Die Erzählung beginnt mit einem Eintrag im Familienstammbaum: «Ernst, geboren 1868, Farmer, Buenos Aires» (S.11). Sie geht weiter mit der Suche nach diesem Ernst, dem Ururgrossonkel von Simon Geissbühler, einem der Autoren des Buchs. Daniel Ryf, der beruflich in Argentinien weilt und für die argentinische Seite der Nachforschungen verantwortlich ist, hilft ihm dabei. 2014 nehmen die beiden die Spurensuche auf, die sie abwechselnd mit Tagebucheinträgen dokumentieren.

Die Recherche führt vom Bundesarchiv in Bern über den Taufrodel von Bürglen bis zum Museo de la Inmigración, der Nachfolgeeinrichtung der Institution, in der die Einwanderer ankamen, kontrolliert und registriert wurden. Die Autoren finden heraus, dass der 21­Jährige im Dezember 1889 in Le Havre das Schiff Pampa nach Argentinien bestieg. Im Januar 1890 liess er sich bei der Schweizer Vertretung in Argentinien registrieren, danach verliert sich die offizielle Spur. Wie das Telefonbuch verrät, leben auffällig viele Angehörige der Familie Geissbühler in der kleinen Ortschaft General Deheza. Dort erreicht Ryf eine Rosana Geisbuhler, die Schweizer Wurzeln hat und sich an einen Urgrossvater mit dem Namen Ernesto Geisbuhler erinnert.

Ryf fährt nach General Deheza, um Rosana Geisbuhler und ihre Tante Raquel zu treffen, die einiges über die Familie zu berichten weiss. An Ernst Geissbühlers Geburtstag erfährt der Autor mehr über die Geschichte des Auswanderers: Ernesto, wie er sich nach seiner Ankunft in Argentinien nannte, eröffnete zuerst eine Kantine, wo sich Eisenbahn­ und Bahnhofsmitarbeiter verpflegten. Danach unterrichtete er als Privatlehrer in der Kleinstadt General Deheza in der argentinischen Pampa. Er heiratete Elisa, ebenfalls eine Schweizerin, und zog mit ihr vier Kinder gross: Walter, Artigo, Diego León und Eduviges, die ihrerseits wieder zahlreiche Nachkommen hatten. In der Ortschaft wurde er «el Manco», «der Einarmige», genannt, weil er als Kind einen Arm verloren hatte, als er an einem Eisenbahngleis schlief. Obwohl er mit seiner Frau Schweizerdeutsch redete, sprach er selten über seine Schweizer Wurzeln und brachte seinen Kindern auch kein Schweizerdeutsch bei. Die Nachfolgegeneration assimilierte sich, schrieb den Familiennamen nur noch mit einem «s» und ohne Umlaut. Ernst Geissbühler starb am 24. März 1942 in General Deheza in der argentinischen Pampa und liegt dort neben seiner Frau begraben.

Entgegen dem Titel des Buchs steht nicht die Geschichte des «einarmigen Auswanderers» im Vordergrund, sondern eine Geschichte der Spurensuche und des Zusammenfindens einer Familie. Als Folge der Kontaktaufnahme reist Rosana Geisbuhler in die Schweiz, kurze Zeit später besucht Simon Geissbühler seine argentinischen Verwandten. Die argentinischen Tagebücher enthalten immer wieder historische Randdaten, wirtschaftliche und militärische Anekdoten und Gedanken über Geschichte und Gesellschaft. Ryf nimmt die Leser mit auf zahlreiche historische Exkurse, Besichtigungen und Zwischenstopps. Er erzählt die Geschichte des Jesuitenordens in Argentinien und des Kapitäns Hans Langsdorff, der sein eigenes Schiff versenkte, recherchiert zum Dampfer Pampa und besucht die kleine Ortschaft Villa Berna, die von einer Schweizerin Mitte des 20. Jahrhunderts gegründet wurde. Simon Geissbühler philosophiert in Rückgriff auf zeitgenössische Literatur zum Begriff der Heimat und thematisiert politische Schwierigkeiten Argentiniens, über die er als Diplomat spannende Einsichten geben kann. In dieser thematischen Fülle gerät die Geschichte Ernst Geissbühlers etwas in den Hintergrund.

Folgerichtig steht am Ende trotz der spannend aufgebauten Suche die Feststellung: «Über das Leben von Ernst wissen wir kaum etwas.» (S. 126) Vieles bleibt offen: Warum wanderte Ernst Geissbühler aus? Wie haben sich Ernst und Elisa kennengelernt? Welchem Beruf ging Ernst unmittelbar nach seiner Ankunft nach? Auch wie die Information über Ernsts Heirat und die zwei Söhne in den Familienstammbaum gekommen waren, obwohl der Auswanderer angeblich keinen Kontakt mehr zur Schweiz pflegte, wird nicht geklärt.

Trotz der wenigen Informationen und solcher Widersprüche gibt das Buch durchaus Anstösse zu einer Gedankenreise in eine uns unbekannte Zeit. Es enthält 26 Bilder und Fotografien, die analysiert und interpretiert werden und so eine gedankliche Rekonstruktion des Geschehenen ermöglichen. Mit nützlichen Informationen werden den Lesenden zudem politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge erläutert. Das Buch hebt sich bewusst von den Meisternarrativen ab: In der Arbeit mit historischen Quellen wird die Geschichte einer ganz normalen argentinischen Familie nachgezeichnet. Es wird eben nicht der Geschichte eines berühmten Auswanderers nachgegangen und die Autoren fragen zu Recht: «Warum soll das Leben von Ernst Geissbühler nicht genauso wertvoll und erzählenswert sein wie dasjenige eines Politikers oder Wirtschaftsführers?» (S.16)

Zitierweise:
Magda Kaspar: Rezension zu: Geissbühler, Simon, Ryf, Daniel: Der einarmige Auswanderer. Eine Spurensuche vom Emmental nach Argentinien. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2016. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 3, 2018, S. 53-55.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 3, 2018, S. 53-55.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Thema
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit